Sonntag, 23. Januar 2011

Gespenster - von Nadia Meißnitzer - nach einer Idee von Irene Racek

Das Verlies war buchstäblich überfüllt. Überall, wo man nur hinsah, standen Gespenster, saßen Gespenster, lehnten Gespenster, sogar von der Decke hingen welche.

Es war die Gespensterjahresversammlung. Eine traurige Versammlung allerdings war es heuer!


„Gespensterbrüder!!“ sprach das ehrwürdige Altgespenst Harras von Modergrub zu Henkerthal feierlich. „Freunde! Seit Gespenstergedenken leben wir mit den Menschen auf dieser Erde! Des Menschen ist der Tag – uns jedoch gehört die Nacht!“

„Die Geheimnisvolle! Die Wundersame!“ rief das Gespenst Valentin Maria Floribundus, das heimlich Gedichte schrieb und alle Gespenster riefen „Bravo!“ und „So ist es!“

„Doch wehe!“ fuhr der ehrwürdige Harras fort „die Menschen sind nun in den Krieg gezogen. Früher arbeiteten sie und sangen dazu. Jetzt kämpfen sie gegeneinander und stören unsere Tagesruh’ mit ihrem Kriegsgeheul. Sogar in der Nacht, die ja uns gehört, machen sie Höllenlärm mit ihren Kriegsmaschinen. Sie fürchten nicht mehr UNS – sie fürchten EINANDER!“ Die Gespenster schüttelten die Köpfe und riefen „Schande!“ und „Weh! Dreimal weh!“ oder einfach nur „BUUUUUH!“

„Wenn sich die Menschen so benehmen, als ob sie alleine auf Erden wären, werden sie eines Tages wirklich alleine bleiben!“

So beschlossen die Gespenster, damals vor vielen, vielen Jahren, die Erde zu verlassen. Still und heimlich zogen sie durch Ritzen, Fugen und Erdlöcher in die Unterwelt. Kein einziges Gespenst blieb auf der Erde zurück. Kein einziges? GAR KEINES?

Als die Gespenster noch unter den Menschen lebten, zog ein junger Poltergeist namens Franz Haubrand Krause durch die Lande, auf der Suche nach einer Unterkunft. Er ließ sich auf dem Schloss des Grafen Maxenzio Vincente Mascherini nieder, denn das wundervoll modrig duftende und herrlich feuchte Kellerverlies hat es ihm angetan und auch der gräfliche Weinkeller war ganz und gar nach seinem Geschmack. Der Graf selbst, ein recht sonderbarer Geselle, schloss Franz Hadubrand Krause sofort ins Herz und so spuckten sie bald gemeinsam durch die langen Flure des Schlosses und tranken hinterher miteinander den gräflichen Wein im Schlosskeller. „Prost Franzi!“ „Zum Wohle Maxi!“ Nachtein nachtaus.

Als der Krieg ausbrach, entschloss sich Graf Maxenzio, der Krieg, Gewalt und Unrecht über alles verabscheute, zu fliehen. Er wollte weit weit weg, so weit wie nur möglich, er wollte nach Amerika auswandern. Doch Franz fürchtete sich vor dem großen Wasser, das es zu überqueren galt und daher trennten sich die Wege unserer beiden Freunde.

In dieser letzten Nacht saßen sie traurig in ihrem Weinkeller und tranken das allerletzte Mal miteinander. Und weil sie so besonders traurig waren, tranken sie auch besonders viel auf den besonders großen Kummer. Schließlich schneuzte sich Graf Maxenzio ausgiebig und erklärte, es sei ihm etwas ins Auge gefallen. Er wischte sich die Augen, sagte „Oh Franzi, oh teurer Freund, mein Gedanke wird für ewig bei dir weilen!“, schwang sich aufs Pferd und trabte davon. Franz Hadubrand dagegen heulte ungeniert wie dreizehn Schlosshunde und dreizehn Werwölfe zusammen und als der Graf mit seinem Pferd nur noch ein Pünktchen am Horizont waren und dann ganz verschwanden, ging er in den Weinkeller zurück und trank noch ein Weilchen, mutterseelenallein mit seinem Kummer.

So passierte es, dass er die Gespensterjahresversammlung verschlief. Er schlief einen wahrhaftigen Gespensterschlaf, der derart fest und tief war, dass er glatt zwei Jahrhunderte dauerte und noch ein paar Dutzend Jährchen dazu.

In einer Nacht wachte Franz auf. Er streckte sich und reckte sich, hüstelte und räusperte sich. „Uaaaaaaaaaaah-uahahahaaaaaaaaa!“ Es gelang ihm in der Tat ein fabelhaftes Werwolfsgejaule und er war sehr zufrieden. Er entschloss sich, die Schlossgänge mit einem Schwung durchzufegen und wählte dazu ein eindrucksvolles Kettengerassel als Begleitmusik. Er stutzte ein wenig, als er den Stiegenaufgang nicht fand. Die Kellerstiege war zugeschüttet. Doch das störte ihn nicht sonderlich, er schwebte einfach durch die Ritzen hinauf. Zu seiner Überraschung befand er sich gleich unter freiem Himmel.

Die Sterne leuchteten schwach, leichte Nabelschwaden zogen vorüber und in der Ferne sang ein Uhu das alte Loblied der Geister. Der Mond beleuchtete mit seinem fahlen Licht die Schlossruine.  Von dem herrlichen Schloss des Grafen Maxenzio blieb nur noch eine Ruine übrig. Franz Hadubrand gefiel diese Ruine auch recht gut, aber die Erinnerung an seinen Freund Maxi stimmte ihn traurig. Er hüpfte ein bisschen hin und her, aber es machte ihm keine Freude so alleine für sich herumzuspuken.
Ein feines Spinnennetz schwebte durch die Lüfte, besät mit winzigen Tröpfchen, die wie Diamanten glitzerten. Franz fing es auf, schlug es lässig um seinen Hals und derart aufgeputzt, machte er sich auf die Suche nach einem Gespensterbruder.

Oder wenigstens nach einem Menschen.

Er flog, er schwebte und ließ sich vom Nachtwind treiben. In der Früh, sehr zeitig noch, sah er in der Ferne eine merkwürdige Stadt. Seltsame riesige Häuser ragten bis zu den Wolken. Er war sich gar nicht sicher, ob es überhaupt Häuser waren, denn sie sahen ganz anders aus als jene Häuser, die er kannte. Sie hatten weder Türmchen noch Wasserspeier, auch keine geschwungenen Dächer mit Schornsteinen. Sie waren glatt und nackt wie die Gipfel hoher Berge. Aber sie hatten unzählige Fenster, also waren es doch Häuser.

Franz war nicht sonderlich erstaunt darüber, denn er wusste, dass die Menschen eigenartig sind und seltsame Dinge tun – ganz anders als die Geister.

Da die Sonne bald aufgehen sollte, verkroch er sich in einer bequemen Baumkrone und schlief sogleich ein. Am späten Nachmittag wachte er auf und beschloss, die Menschenstadt zu erkunden.

Mit einigen Siebenmeilen-Schritten in den Wolken war er bald über der Stadt. Er sah hinunter auf  die Straße und suchte vergeblich nach vertrauten, von Pferden gezogenen Kutschen und Droschken. Er sah unten Menschen, die in großen Scharen in die eine oder andere Richtung liefen. Und alle starrten stumm vor sich hin.

Mitten auf der Straße standen in langen Reihen klobige Tiere. Franz hatte solche Tiere noch nie gesehen. Sie waren ganz nackt und bunt glänzend wie die Ostereier. Franz setzte sich auf ein, über die Straße gespanntes Seil, auf dem eine rote Laterne hing. Plötzlich brannte statt dem Roten ein grünes Feuer in der Laterne, die Tiere schreckten sich und rannten davon.

„Seltsam“, dachte Franz. „Es muss eine sehr verhexte Stadt sein!“ Da er für die Menschen unsichtbar war, ließ er sich vorsichtig auf die Straße nieder, direkt in die Menschenmenge. Er lief mit den Menschen und kam in ein Haus. Er blieb in einem großen Saal stehen. Auf einmal machte sich eine Wand auf! Einige Menschen liefen durch die Öffnung in eine kleine Höhle und die Wand schloss sich sofort hinter ihnen. Gleich neben ihm öffnete sich die Wand wieder und spuckte viele Menschen aus, die sich eiligst aus dem Staub machten. Franz beobachtete ein Weilchen das sonderbare Schauspiel, bekam aber bald Angst, dass auch ihn die Wand fressen würde und flüchtete Hals über Kopf aus dem gefährlichen Haus.

Er floh hoch hinauf in die Luft. Er zog es vor, erst bei Dunkelheit auf die Erde hinunter zu schweben. Es schien ihm sicherer, die Stadt in der Nacht durchzuwandeln, um nach einem schönen tiefen Keller Ausschau zu halten. So suchte er vorerst nach einer Baukrone, in der er die Dämmerung abwarten könnte, fand aber keine. Er stieg noch ein bisschen höher, da er hoffte, wenigstens ein gemütliches Dachkämmerlein mit Fledermäusen zu finden, und freute sich schon richtig auf eine nette Plauderei mit ihnen. Zu seiner Enttäuschung fand er rundherum gar kein richtiges Dach, geschweige denn ein Dachkämmerlein. Alle Häuser hörten abrupt auf, nur abertausende Drähte ragten oben aus den glatten Flächen heraus.

Verdrossen schwebte Franz hinunter bis er schließlich einen Fenstersims sah. Er setzte sich auf den Vorsprung. Er saß schon eine ganze Weile, als er plötzlich hinter sich Stimmen hörte. Er drehte sich um, schaute durch das Fenster ins Haus hinein und erschrak. Im Zimmer saßen auf dem Boden vier kleine Zauberer. Sie hielten in einer Kiste mit einer durchsichtigen Wand viele kleine Menschen gefangen. Die winzigen Menschen liefen in der Kiste herum, fuchtelten wild mit den Armen und die vier Zauberer lachten böse.

Franz fürchtete nichts so sehr, wie in einer Flasche oder Kiste eingesperrt zu werden. Das ist das schlimmste, was einem Geist passieren kann. Verschreckt flatterte er rasch davon.

Allmählich wurde es dunkel. Franz fand auf der Straße einen Kellereingang und eilte hinein. Unten im Keller standen einige Menschen. Manche unterhielten sich und lachten. Franz schickte sich an, sie zu belauschen, doch eher er sich den Menschen nähern konnte, kam aus einem Loch ein schrecklicher Drache mit funkelnden Augen. „Hiiiiiiiiiiiaaaaaah!“ Vor Schreck erstarrt, presste sich Franz gegen die Kellerwand. Das grauenhafte Ungeheuer hatte am Körper viele Mäuler. Es riss seine Mäuler auf und verschlang im Nu alle Menschen, die vorhin im Keller herumstanden. Dann verschwand es in einem anderen Loch wieder. Nur sein furchterregendes Zähnegeklapper hallte ihm nach. Franz rannte aus dem Keller hinaus und flog wieder so hoch hinauf wie nur konnte,  bis in die Wolken.

Die Wölkchen schaukelten sanft hin und her. Allmählich beruhigte sich Franz, er fühlte sich sogar wohl. Er hüpfte von einer Wolke zur anderen. Er trug ein paar Wölkchen zusammen und türmte sie übereinander. Auf der Milchstraße nahm er dann einen Anlauf und sprang in den Wolkenhaufen hinein. „Juhuuuuuuu!“ War das lustig! Franz schleppte alle Wolken an, die er am Himmel fand und baute sich ein wunderschönes Wolkenschloss. Es war fast genau so schön, wie das Schloss des Grafen Maxenzio. Franz war überglücklich. Vor lauter Freude fing er an zu spuken und die Sternchen lachten und klatschen Beifall.

Sein Glück jedoch währte nicht lange. Mit einem Donnergetöse raste ein riesiger stählerner Vogel durch sein Wolkenschloss und zerstörte es. Franz purzelte zur Erde. Es geschah so rasch, dass er den grauenhaften Feuervogel nicht einmal richtig gesehen hat. Verdutzt blieb Franz am Boden sitzen. Auf dem Beton eines trostlosen Hinterhofes. Ringsum ragten nur schmutzige hohe Mauern empor, in einer Ecke standen zwei Mistkübel, altes Gerümpel lag in der anderen.

„Uhuaaaaaaah!“ machte er missmutig.

„Uhuaaaaaaah!“ tönte  es von oben zurück.

Es kam von einem Fenster im zweiten Stock.

„Ein Gespenst! Ein Geist!“ rief Franz begeistert.

Er flatterte hinauf und schwebte durch das offene Fenster. Im Zimmer, auf einem Bettchen, saß ein Menschenkind und rieb sich die Augen. Genauso, wie Graf Maxenzio es tat bevor er fortging.

„Ist dir etwas ins Auge gefallen?“ fragte Franz besorgt.

„Nein“, sagte das Kind und rieb sich weiter die Augen. „Mir ist nichts ins Auge gefallen. Ich heule bloß.“

„Ich kann auch heulen“, sagte Franz stolz. „Meine Werwolfsheuler sind wirklich einmalig!“ brüstete er sich.

„Ich weine“, erklärte das Kind.

„Aha“, sagte Franz, der nicht so recht wusste, was es bedeutet. „Weinst du gerne? Kannst du wirklich gut weinen? Könntest du es mir auch beibringen?“ „Ich weine überhaupt nicht gerne“, sagte das Kind und zog die Nase auf. „Warum tust du es denn, wenn du nicht magst?“ fragte Franz verwundert.

„Weil ich muss, weil ich traurig bin, weil ich alleine bin“, antwortete das Kind und fing wieder zu weinen an. Franz flatterte ratlos um das weinende Kind herum. „So hör doch auf, ich schenke dir mein schönes Spinnennetz mit tausend Tautröpfchen, die wie Diamanten glitzern“, bot er dem Kind an. „Ich will kein Spinnennetz“, sagte das Kind unglücklich. „Ich bin sooo traurig. Ich bin sooo alleine. Niemand ist bei mir!“, schluchzte es. „Das ist nicht wahr!“ protestierte Franz. Schließlich bin ich bei dir!“

Das Kind hörte zu weinen auf und schaute Franz mit großen Augen an. „Wer bist denn du?“
„Ich bin Franz Hadubrand Krause, mit Verlaub, meines Zeichens Poltergeist“, stellte sich Franz feierlich vor und verneigte sich dreimal. „Ich kann heulen, ich kann spuken, geistern, poltern und überhaupt! So!“, sagte er noch und setzte sich auf die Bettkante.

„Kannst du auch Märchen erzählen?“, wollte das Kind wissen. „Ich weiß es nicht“, meinte Franz verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. „Wenn du mir sagst, wie man es macht, will ich es gerne versuchen.“

Jetzt musste das Kind lachen. So einen komischen Kerl hatte es noch nie gesehen. Es kannte auch niemanden, der durch ein Fenster zu Besuch kam – wie im Märchen – und dennoch nicht wusste, was Märchen sind. Das Kind wünschte sich sehr, dass Franz bei ihm bliebe.

„Weiß du was?“, sagte das Kind zu Franz „ich werde dir jetzt Märchen erzählen: das Märchen vom Rotkäppchen und das vom Schneewittchen und auch das von der Pechmarie. Und dann erzählst du mir welche. Ja?“

„Abgemacht“, sagte Franz begeistert „nachher erzähle ich dir das Märchen vom Rotkäppchen und das vom Schneewittchen und auch das von der Pechmarie. Ist es so richtig?“

„Nein“, erwiderte das Kind. „Du musst mir DEINE Märchen erzählen. Du denkst dir einfach etwas aus und das wird dann dein Märchen. Möchtest du unter meine Decke kommen?“

Franz kuschelte sich schnell unter die Decke. Er blieb dort die ganze Nacht und schlief am Tag im Kasten mit den Teddybären und der Puppe Erika. Und am Abend huschte er zum Kind ins Bett und erzählte ihm Märchen. Solange, bis es einschlief. Und wenn Franz gerade kein Märchen einfiel, ließ er sich vom Kind eines erzählen.

Nachmittags, als das Kind vom Kindergarten nach Hause kam, sah es immer zuerst im Spielzeugkasten nach. Franz war da. Er lächelte glücklich im Schlaf. Und am Abend, als das Kind zu Bett ging, huschte er schnell unter seine Decke.

Eines Tages baute das Kind aus Bausteinen ein richtiges Spuckschloss, damit es Franz auch tagsüber recht gemütlich hat.

„Was erzählst du den da?“ fragte eines Abends die Mutter als sie hereinkam um dem Kind einen Gutenachtkuss zu geben. „Ich unterhalte mich mit meinem Freund Franz!“ sagte das Kind stolz. „Ich dachte, dein Teddybär heißt Mischa“ wunderte sich die Mutter. „Ich rede nicht mit Mischa“, erklärte das Kind. „Mein Freund Franz ist auch kein Teddybär sondern ein Poltergeist und wir erzählen uns Märchen.“

„Poltergeist!“ sagte die Mutter und schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Geister, Martin. Du träumst schon, noch bevor du richtig schläfst. Na dann – gute Nacht Herzchen.“
Die Mutter strich die Decke glatt und machte die Tür hinter sich leise zu.

„Träume ich dich, Franz?“ fragte das Kind besorgt. „Aber wo!“ sagte Franz rasch. „Weiß du, die Menschen können uns gar nicht sehen. Deshalb glauben sie auch nicht, dass es uns gibt. Nur für unsere Freunde können wir uns sichtbar machen. Und du bist mein ganz besonderer Freund.“

„Ich weiß nicht“ sagte Martin zweifelnd. „Ich habe gehört, dass die Gespenster gerade den bösen Menschen erscheinen. Sie erschrecken dann fürchterlich und fallen tot um. Oder sie stottern für immer und ewig.“

„Unsinn“, erwiderte Franz. „Das, was die bösen Menschen sehen, ist ihr eigenes schlechtes Gewissen. Die Feiglinge wiederum sehen nur ihre eigene Angst und glauben, es wären Geister. So ist es! Und heute bist du an der Reihe. Welches Märchen erzählst du mir heute?“

Und so sitzen die beiden in Martins Bettchen und erzählen sich Märchen. Nachtein, nachtaus.

Anmerkung:

Der Text dieser Geschichte wurde so niedergeschrieben, wie übernommen. Das Copyright liegt ganz alleine bei Nadia Meißnitzer und Irene Racek. 

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