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Freitag, 11. Februar 2011

Meine Wiener Geschichte

In meinen Wiener Anfängen wohnte ich eine zeitlang zu Untermiete in einem möblierten Zimmer. Meine Wirtin, Frau Henisch, entstammte einer altösterreichischen Offiziersfamilie und sprach sogar noch recht passabel tschechisch. Mein damaliger deutscher Wortschatz beschränkte sich dagegen auf „Guten Tag“ und „das ist zum Kotzen“ (aufgeschnappt aus einem tschechischen Kriegsfilm, in dem sich ein widerstandskämpfender deutscher Genosse konsequent fluchend durch die Handlung ekelte). Die alte Dame hatte meine „unwegsame“ Muttersprache als Kind gelernt, von ihrem Kindermädchen und von der (selbstverständlich böhmischen) Köchin. Wer nämlich in der alten Monarchie auf sich hielt, der MUSSTE eine echte böhmische Köchin haben. Heutzutage gibt es nunmehr wenige wirklich noble  Familien – und vor allem gibt es keine böhmischen Köchinnen mehr. Vor einigen Jahren bewunderte (und beneidete) eine Professorin an der Handelsakademie meinen vornehmen Lebensstil als sie von unserer Tochter erfuhr, dass wir uns immer noch den schieren Luxus einer böhmischen Köchin leisten – ganz wie zu Zeiten weiland Seiner Majestät. Mein Früchtchen Karolin’ hatte „ganz vergessen“ zu erwähnen, dass die famose böhmische Köchin ihre eigene Mutter sei.

Der Sohn von Frau Henisch, ein anerkannter österreichischer  Bildhauer, hatte einen Lehrstuhl an der Frankfurter Universität inne und die alte Dame fühlte sich in ihrer großen Wohnung sehr einsam.  Deshalb vermietete sie zwei Zimmer an allein stehende Frauen. Das eine Zimmer bewohnte ich, das andere eine gebleichte, etwas ordinär aussehende Blondine in den Vierzigern.  Ich war damals 22 Jahre jung und mit meinen 46 kg, bei einer Lebensgröße von 153 cm, war ich schlicht gesagt - eine Miniatur.  Die Blondine dagegen war ein gestandenes Weibsbild, ein Meter achtzig groß, mit einem imposant prallen Busen. Mein Gehalt reichte zu jener Zeit aus um die Miete zu bezahlen und es blieben mir noch etwa 500 Schilling übrig. Dämlich wie ich war, verließ ich Prag Hals über Kopf nur mit dem Gewand, das ich gerade am Leibe trug, dafür aber mit einer Reisetasche vollgepackt mit Dingen, die ein junger Mensch unbedingt zum Leben braucht (z.B. ein dickes Buch über Francois Villon, ein noch dickeres Band Komödien von Goldoni, Ansichten des  Monsieur Sartre, Lebenslauf von Leonardo da Vinci in zwei Bändern ....). Ich war  jung, fröhlich und ärmer als die Kirchenmaus, trank heißes Wasser aus der Wasserleitung um wenigstes etwas warmes in den Magen zu bekommen und ernährte mich von halben Jausen, die sich ein junger Arbeitskollege von dem Mund absparte (er merkte als einziger, dass ich nichts zum Essen habe). 


Copyright Nadia Meißnitzer


Diese Blondine,  Strasser hieß sie, kam eines Tages zu mir und brachte mir hübsche Unterwäsche. Mit Händen und Füßen versuchte sie mir verständlich zu machen, dass sie diese Wäsche im Abverkauf erstand, leider passen ihr die guten Stücke nicht und sie könne es auch nicht mehr umtauschen. Zum besseren Verständnis führte sie mir eine kleine Pantomime vor indem sie  die Hände rang und die Augen zur Decke verdrehte, deutete auf den Kassenbon auf dem ein großer roter Stempel aufgedruckt war, schüttelte verneinend den Kopf, tat als ob sie die Wäsche nun in den Mistkübel werfen würde, drückte es mir anschließend in die Hand und machte Bitte-Bitte - bis ich endlich begriff, dass sie sich beim Kauf fatal vergriffen hatte. Es ging mir aber nicht ein, dass diese Walküre so borniert wäre, eine Kleidergröße 36 zu kaufen wo sie mindestens 48 hätte haben müssen. Sie tat mir richtig leid, also nahm ich die guten Stücke dankend entgegen denn es wäre wirklich Schade sie wegzuwerfen. Frau Strasser bedankte sich überschwänglich – und kaufte weiterhin kopflos ein. Auf dieser Weise kam ich bald zu einer ansehnlichen Garderobe und lernte neue deutsche Wörter: „Abverkauf – kein Umtausch!“ Ich bot mich einige Male an, sie beim Einkaufen zu beraten, aber es klappte  niemals, da sie just nur  dann Zeit hatte wenn ich arbeiten war. Einmal in der Woche klopfte sie an meiner Zimmertür, weinend, die Schminke über das ganze Gesicht verschmiert. Sie hatte groß aufgekocht und ihr Freund ließ sie wieder einmal sitzen. Ich hatte Mitleid und leistete ihr bei Tisch Gesellschaft, regelmäßig, Woche für Woche. Ehrlich gesagt: dank Frau Strasser habe ich mich damals  wenigstens einmal in der Woche ordentlich satt essen können. Sie kochte wirklich ausgezeichnet. Mit meinem spärlichen Wortschatz versuchte ich ihr klarzumachen, dass sie dem Armleuchter den Laufpass geben sollte, aber sie schniefte nur, schaute mir beim Schlemmen zu und sagte immer wieder „Ach Fräulein, sie sind so lieb zu mir“.

Eines Tages zerstritt ich mich mit der Zimmerwirtin (ich war etwas hochnäsig und fühlte mich wegen einer Lappalie todbeleidigt), packte meine sieben Sachen und zog auf der Stelle aus.  Ein Jahr später ging ich in die Schweiz, drei Jahre darauf heiratete ich, kehrte nach Wien zurück und unsere Tochter Karolin’ kam zur Welt (erstaunlicherweise klappte es in dieser Reihenfolge, obwohl es bis zum letzten Moment nicht ganz klar war, was zuerst kommt und was danach). Wir mieteten uns eine Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk und da fiel mir ein, dass Frau Henisch ganz in der Nähe wohnen müsse. Sie lebte noch, ich rief sie an und sie lud mich zur Jause ein. Sie bewunderte mein Baby, wir plauderten über alles Mögliche und auf einmal fragte sie mich: „kannst du dich noch an die Frau Strasser erinnern?“  Meine Güte, wie hätte ich diese dumme Pute jemals vergessen können! Bei ihrer erstaunlichen Treffsicherheit, stets die falsche Kleidungsgröße zu erwischen, war es ein Wunder, dass sie nicht im Zeitungspapier eingewickelt herumging. Außerdem gehörte auch einiges an Blauäugigkeit dazu um Woche für Woche Leckerbissen zu kochen für irgendeinen Trampel, der sich kein einziges Mal blicken ließ.  Ich sagte es Frau Henisch und sie erzählte mir, dass sie vor einiger Zeit in der Volksoper gewesen ist (die Strasser wohnte längst nicht mehr bei ihr) und nach der Vorstellung auf dem Gehsteig auf ihren Sohn wartete, der sie mit dem Wagen abholen sollte. Auf einmal klopfte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Sie drehte sich um und sah die Strasser vor sich. Frau Henisch grüßte sie und fragte höflich, wie ihr die Operette gefallen hat. Die Strasser bekam einen mittleren Lachkrampf und erklärte, dass sie keineswegs in der Oper war sondern gleich um die Ecke ihren Rayon hätte,  wo sie „das Pflaster tritt“ und auf Kundschaft wartet. Die Frau Strasser war eben eine waschechte Straßendirne.  Sie plauderten ein Weilchen darüber, was es neues gibt, wie „das Geschäft“ so läuft und plötzlich fragte Frau Strasser, ob Frau Henisch wisse, was aus dem vornehmen Fräulein geworden ist, dass vor Jahren bei ihr gewohnt hat. Frau Strasser erinnerte sich, wie arm das feine Fräulein gewesen ist, nichts anzuziehen und auch nichts zum essen hatte es, und so musste sie sich um das arme Ding kümmern, damit das Fräulein nicht so sehr leiden müsse. Sie war besonders stolz darauf, damals eine Möglichkeit gefunden zu haben um das Mädel anzuziehen und zu füttern - ohne es zu kränken. Solche jungen Damen aus guten Familien würden doch keine Geschenke von Fremden annehmen, geschweige denn von einer alten Hure!

Als ich diese Geschichte hörte, fuhren wir mit meinem Mann jene Gegend einige Male auf und ab (ich wollte mich nachträglich bedanken), aber ich traf Frau Strasser nie wieder. Entweder habe ich sie in ihrem „Arbeitsoutfit“ nicht erkannt oder aber sie hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt.

Ein Nachsatz: als ich in Zürich lebte, wohnte ich u.a. in der Dufourstrasse wo direkt vor meinem Haus die Schönen der Nacht ihren Standplatz hatten. Ich pflegte damals bei den Damen Nowak Canasta zu spielen und kehrte hin und wieder sehr spät in der Nacht heim. Im Winter brachte ich den Mädchen heißen Tee in der Thermosflasche hinunter, im Sommer gekühlte Limonade. Während sie tranken, unterhielten sie mich mit Geschichten aus ihrem Metier. Es waren durch die Bank sehr hübsche und gebildete Mädels.

Sonntag, 23. Januar 2011

Gespenster - von Nadia Meißnitzer - nach einer Idee von Irene Racek

Das Verlies war buchstäblich überfüllt. Überall, wo man nur hinsah, standen Gespenster, saßen Gespenster, lehnten Gespenster, sogar von der Decke hingen welche.

Es war die Gespensterjahresversammlung. Eine traurige Versammlung allerdings war es heuer!


„Gespensterbrüder!!“ sprach das ehrwürdige Altgespenst Harras von Modergrub zu Henkerthal feierlich. „Freunde! Seit Gespenstergedenken leben wir mit den Menschen auf dieser Erde! Des Menschen ist der Tag – uns jedoch gehört die Nacht!“

„Die Geheimnisvolle! Die Wundersame!“ rief das Gespenst Valentin Maria Floribundus, das heimlich Gedichte schrieb und alle Gespenster riefen „Bravo!“ und „So ist es!“

„Doch wehe!“ fuhr der ehrwürdige Harras fort „die Menschen sind nun in den Krieg gezogen. Früher arbeiteten sie und sangen dazu. Jetzt kämpfen sie gegeneinander und stören unsere Tagesruh’ mit ihrem Kriegsgeheul. Sogar in der Nacht, die ja uns gehört, machen sie Höllenlärm mit ihren Kriegsmaschinen. Sie fürchten nicht mehr UNS – sie fürchten EINANDER!“ Die Gespenster schüttelten die Köpfe und riefen „Schande!“ und „Weh! Dreimal weh!“ oder einfach nur „BUUUUUH!“

„Wenn sich die Menschen so benehmen, als ob sie alleine auf Erden wären, werden sie eines Tages wirklich alleine bleiben!“

So beschlossen die Gespenster, damals vor vielen, vielen Jahren, die Erde zu verlassen. Still und heimlich zogen sie durch Ritzen, Fugen und Erdlöcher in die Unterwelt. Kein einziges Gespenst blieb auf der Erde zurück. Kein einziges? GAR KEINES?

Als die Gespenster noch unter den Menschen lebten, zog ein junger Poltergeist namens Franz Haubrand Krause durch die Lande, auf der Suche nach einer Unterkunft. Er ließ sich auf dem Schloss des Grafen Maxenzio Vincente Mascherini nieder, denn das wundervoll modrig duftende und herrlich feuchte Kellerverlies hat es ihm angetan und auch der gräfliche Weinkeller war ganz und gar nach seinem Geschmack. Der Graf selbst, ein recht sonderbarer Geselle, schloss Franz Hadubrand Krause sofort ins Herz und so spuckten sie bald gemeinsam durch die langen Flure des Schlosses und tranken hinterher miteinander den gräflichen Wein im Schlosskeller. „Prost Franzi!“ „Zum Wohle Maxi!“ Nachtein nachtaus.

Als der Krieg ausbrach, entschloss sich Graf Maxenzio, der Krieg, Gewalt und Unrecht über alles verabscheute, zu fliehen. Er wollte weit weit weg, so weit wie nur möglich, er wollte nach Amerika auswandern. Doch Franz fürchtete sich vor dem großen Wasser, das es zu überqueren galt und daher trennten sich die Wege unserer beiden Freunde.

In dieser letzten Nacht saßen sie traurig in ihrem Weinkeller und tranken das allerletzte Mal miteinander. Und weil sie so besonders traurig waren, tranken sie auch besonders viel auf den besonders großen Kummer. Schließlich schneuzte sich Graf Maxenzio ausgiebig und erklärte, es sei ihm etwas ins Auge gefallen. Er wischte sich die Augen, sagte „Oh Franzi, oh teurer Freund, mein Gedanke wird für ewig bei dir weilen!“, schwang sich aufs Pferd und trabte davon. Franz Hadubrand dagegen heulte ungeniert wie dreizehn Schlosshunde und dreizehn Werwölfe zusammen und als der Graf mit seinem Pferd nur noch ein Pünktchen am Horizont waren und dann ganz verschwanden, ging er in den Weinkeller zurück und trank noch ein Weilchen, mutterseelenallein mit seinem Kummer.

So passierte es, dass er die Gespensterjahresversammlung verschlief. Er schlief einen wahrhaftigen Gespensterschlaf, der derart fest und tief war, dass er glatt zwei Jahrhunderte dauerte und noch ein paar Dutzend Jährchen dazu.

In einer Nacht wachte Franz auf. Er streckte sich und reckte sich, hüstelte und räusperte sich. „Uaaaaaaaaaaah-uahahahaaaaaaaaa!“ Es gelang ihm in der Tat ein fabelhaftes Werwolfsgejaule und er war sehr zufrieden. Er entschloss sich, die Schlossgänge mit einem Schwung durchzufegen und wählte dazu ein eindrucksvolles Kettengerassel als Begleitmusik. Er stutzte ein wenig, als er den Stiegenaufgang nicht fand. Die Kellerstiege war zugeschüttet. Doch das störte ihn nicht sonderlich, er schwebte einfach durch die Ritzen hinauf. Zu seiner Überraschung befand er sich gleich unter freiem Himmel.

Die Sterne leuchteten schwach, leichte Nabelschwaden zogen vorüber und in der Ferne sang ein Uhu das alte Loblied der Geister. Der Mond beleuchtete mit seinem fahlen Licht die Schlossruine.  Von dem herrlichen Schloss des Grafen Maxenzio blieb nur noch eine Ruine übrig. Franz Hadubrand gefiel diese Ruine auch recht gut, aber die Erinnerung an seinen Freund Maxi stimmte ihn traurig. Er hüpfte ein bisschen hin und her, aber es machte ihm keine Freude so alleine für sich herumzuspuken.
Ein feines Spinnennetz schwebte durch die Lüfte, besät mit winzigen Tröpfchen, die wie Diamanten glitzerten. Franz fing es auf, schlug es lässig um seinen Hals und derart aufgeputzt, machte er sich auf die Suche nach einem Gespensterbruder.

Oder wenigstens nach einem Menschen.

Er flog, er schwebte und ließ sich vom Nachtwind treiben. In der Früh, sehr zeitig noch, sah er in der Ferne eine merkwürdige Stadt. Seltsame riesige Häuser ragten bis zu den Wolken. Er war sich gar nicht sicher, ob es überhaupt Häuser waren, denn sie sahen ganz anders aus als jene Häuser, die er kannte. Sie hatten weder Türmchen noch Wasserspeier, auch keine geschwungenen Dächer mit Schornsteinen. Sie waren glatt und nackt wie die Gipfel hoher Berge. Aber sie hatten unzählige Fenster, also waren es doch Häuser.

Franz war nicht sonderlich erstaunt darüber, denn er wusste, dass die Menschen eigenartig sind und seltsame Dinge tun – ganz anders als die Geister.

Da die Sonne bald aufgehen sollte, verkroch er sich in einer bequemen Baumkrone und schlief sogleich ein. Am späten Nachmittag wachte er auf und beschloss, die Menschenstadt zu erkunden.

Mit einigen Siebenmeilen-Schritten in den Wolken war er bald über der Stadt. Er sah hinunter auf  die Straße und suchte vergeblich nach vertrauten, von Pferden gezogenen Kutschen und Droschken. Er sah unten Menschen, die in großen Scharen in die eine oder andere Richtung liefen. Und alle starrten stumm vor sich hin.

Mitten auf der Straße standen in langen Reihen klobige Tiere. Franz hatte solche Tiere noch nie gesehen. Sie waren ganz nackt und bunt glänzend wie die Ostereier. Franz setzte sich auf ein, über die Straße gespanntes Seil, auf dem eine rote Laterne hing. Plötzlich brannte statt dem Roten ein grünes Feuer in der Laterne, die Tiere schreckten sich und rannten davon.

„Seltsam“, dachte Franz. „Es muss eine sehr verhexte Stadt sein!“ Da er für die Menschen unsichtbar war, ließ er sich vorsichtig auf die Straße nieder, direkt in die Menschenmenge. Er lief mit den Menschen und kam in ein Haus. Er blieb in einem großen Saal stehen. Auf einmal machte sich eine Wand auf! Einige Menschen liefen durch die Öffnung in eine kleine Höhle und die Wand schloss sich sofort hinter ihnen. Gleich neben ihm öffnete sich die Wand wieder und spuckte viele Menschen aus, die sich eiligst aus dem Staub machten. Franz beobachtete ein Weilchen das sonderbare Schauspiel, bekam aber bald Angst, dass auch ihn die Wand fressen würde und flüchtete Hals über Kopf aus dem gefährlichen Haus.

Er floh hoch hinauf in die Luft. Er zog es vor, erst bei Dunkelheit auf die Erde hinunter zu schweben. Es schien ihm sicherer, die Stadt in der Nacht durchzuwandeln, um nach einem schönen tiefen Keller Ausschau zu halten. So suchte er vorerst nach einer Baukrone, in der er die Dämmerung abwarten könnte, fand aber keine. Er stieg noch ein bisschen höher, da er hoffte, wenigstens ein gemütliches Dachkämmerlein mit Fledermäusen zu finden, und freute sich schon richtig auf eine nette Plauderei mit ihnen. Zu seiner Enttäuschung fand er rundherum gar kein richtiges Dach, geschweige denn ein Dachkämmerlein. Alle Häuser hörten abrupt auf, nur abertausende Drähte ragten oben aus den glatten Flächen heraus.

Verdrossen schwebte Franz hinunter bis er schließlich einen Fenstersims sah. Er setzte sich auf den Vorsprung. Er saß schon eine ganze Weile, als er plötzlich hinter sich Stimmen hörte. Er drehte sich um, schaute durch das Fenster ins Haus hinein und erschrak. Im Zimmer saßen auf dem Boden vier kleine Zauberer. Sie hielten in einer Kiste mit einer durchsichtigen Wand viele kleine Menschen gefangen. Die winzigen Menschen liefen in der Kiste herum, fuchtelten wild mit den Armen und die vier Zauberer lachten böse.

Franz fürchtete nichts so sehr, wie in einer Flasche oder Kiste eingesperrt zu werden. Das ist das schlimmste, was einem Geist passieren kann. Verschreckt flatterte er rasch davon.

Allmählich wurde es dunkel. Franz fand auf der Straße einen Kellereingang und eilte hinein. Unten im Keller standen einige Menschen. Manche unterhielten sich und lachten. Franz schickte sich an, sie zu belauschen, doch eher er sich den Menschen nähern konnte, kam aus einem Loch ein schrecklicher Drache mit funkelnden Augen. „Hiiiiiiiiiiiaaaaaah!“ Vor Schreck erstarrt, presste sich Franz gegen die Kellerwand. Das grauenhafte Ungeheuer hatte am Körper viele Mäuler. Es riss seine Mäuler auf und verschlang im Nu alle Menschen, die vorhin im Keller herumstanden. Dann verschwand es in einem anderen Loch wieder. Nur sein furchterregendes Zähnegeklapper hallte ihm nach. Franz rannte aus dem Keller hinaus und flog wieder so hoch hinauf wie nur konnte,  bis in die Wolken.

Die Wölkchen schaukelten sanft hin und her. Allmählich beruhigte sich Franz, er fühlte sich sogar wohl. Er hüpfte von einer Wolke zur anderen. Er trug ein paar Wölkchen zusammen und türmte sie übereinander. Auf der Milchstraße nahm er dann einen Anlauf und sprang in den Wolkenhaufen hinein. „Juhuuuuuuu!“ War das lustig! Franz schleppte alle Wolken an, die er am Himmel fand und baute sich ein wunderschönes Wolkenschloss. Es war fast genau so schön, wie das Schloss des Grafen Maxenzio. Franz war überglücklich. Vor lauter Freude fing er an zu spuken und die Sternchen lachten und klatschen Beifall.

Sein Glück jedoch währte nicht lange. Mit einem Donnergetöse raste ein riesiger stählerner Vogel durch sein Wolkenschloss und zerstörte es. Franz purzelte zur Erde. Es geschah so rasch, dass er den grauenhaften Feuervogel nicht einmal richtig gesehen hat. Verdutzt blieb Franz am Boden sitzen. Auf dem Beton eines trostlosen Hinterhofes. Ringsum ragten nur schmutzige hohe Mauern empor, in einer Ecke standen zwei Mistkübel, altes Gerümpel lag in der anderen.

„Uhuaaaaaaah!“ machte er missmutig.

„Uhuaaaaaaah!“ tönte  es von oben zurück.

Es kam von einem Fenster im zweiten Stock.

„Ein Gespenst! Ein Geist!“ rief Franz begeistert.

Er flatterte hinauf und schwebte durch das offene Fenster. Im Zimmer, auf einem Bettchen, saß ein Menschenkind und rieb sich die Augen. Genauso, wie Graf Maxenzio es tat bevor er fortging.

„Ist dir etwas ins Auge gefallen?“ fragte Franz besorgt.

„Nein“, sagte das Kind und rieb sich weiter die Augen. „Mir ist nichts ins Auge gefallen. Ich heule bloß.“

„Ich kann auch heulen“, sagte Franz stolz. „Meine Werwolfsheuler sind wirklich einmalig!“ brüstete er sich.

„Ich weine“, erklärte das Kind.

„Aha“, sagte Franz, der nicht so recht wusste, was es bedeutet. „Weinst du gerne? Kannst du wirklich gut weinen? Könntest du es mir auch beibringen?“ „Ich weine überhaupt nicht gerne“, sagte das Kind und zog die Nase auf. „Warum tust du es denn, wenn du nicht magst?“ fragte Franz verwundert.

„Weil ich muss, weil ich traurig bin, weil ich alleine bin“, antwortete das Kind und fing wieder zu weinen an. Franz flatterte ratlos um das weinende Kind herum. „So hör doch auf, ich schenke dir mein schönes Spinnennetz mit tausend Tautröpfchen, die wie Diamanten glitzern“, bot er dem Kind an. „Ich will kein Spinnennetz“, sagte das Kind unglücklich. „Ich bin sooo traurig. Ich bin sooo alleine. Niemand ist bei mir!“, schluchzte es. „Das ist nicht wahr!“ protestierte Franz. Schließlich bin ich bei dir!“

Das Kind hörte zu weinen auf und schaute Franz mit großen Augen an. „Wer bist denn du?“
„Ich bin Franz Hadubrand Krause, mit Verlaub, meines Zeichens Poltergeist“, stellte sich Franz feierlich vor und verneigte sich dreimal. „Ich kann heulen, ich kann spuken, geistern, poltern und überhaupt! So!“, sagte er noch und setzte sich auf die Bettkante.

„Kannst du auch Märchen erzählen?“, wollte das Kind wissen. „Ich weiß es nicht“, meinte Franz verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. „Wenn du mir sagst, wie man es macht, will ich es gerne versuchen.“

Jetzt musste das Kind lachen. So einen komischen Kerl hatte es noch nie gesehen. Es kannte auch niemanden, der durch ein Fenster zu Besuch kam – wie im Märchen – und dennoch nicht wusste, was Märchen sind. Das Kind wünschte sich sehr, dass Franz bei ihm bliebe.

„Weiß du was?“, sagte das Kind zu Franz „ich werde dir jetzt Märchen erzählen: das Märchen vom Rotkäppchen und das vom Schneewittchen und auch das von der Pechmarie. Und dann erzählst du mir welche. Ja?“

„Abgemacht“, sagte Franz begeistert „nachher erzähle ich dir das Märchen vom Rotkäppchen und das vom Schneewittchen und auch das von der Pechmarie. Ist es so richtig?“

„Nein“, erwiderte das Kind. „Du musst mir DEINE Märchen erzählen. Du denkst dir einfach etwas aus und das wird dann dein Märchen. Möchtest du unter meine Decke kommen?“

Franz kuschelte sich schnell unter die Decke. Er blieb dort die ganze Nacht und schlief am Tag im Kasten mit den Teddybären und der Puppe Erika. Und am Abend huschte er zum Kind ins Bett und erzählte ihm Märchen. Solange, bis es einschlief. Und wenn Franz gerade kein Märchen einfiel, ließ er sich vom Kind eines erzählen.

Nachmittags, als das Kind vom Kindergarten nach Hause kam, sah es immer zuerst im Spielzeugkasten nach. Franz war da. Er lächelte glücklich im Schlaf. Und am Abend, als das Kind zu Bett ging, huschte er schnell unter seine Decke.

Eines Tages baute das Kind aus Bausteinen ein richtiges Spuckschloss, damit es Franz auch tagsüber recht gemütlich hat.

„Was erzählst du den da?“ fragte eines Abends die Mutter als sie hereinkam um dem Kind einen Gutenachtkuss zu geben. „Ich unterhalte mich mit meinem Freund Franz!“ sagte das Kind stolz. „Ich dachte, dein Teddybär heißt Mischa“ wunderte sich die Mutter. „Ich rede nicht mit Mischa“, erklärte das Kind. „Mein Freund Franz ist auch kein Teddybär sondern ein Poltergeist und wir erzählen uns Märchen.“

„Poltergeist!“ sagte die Mutter und schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Geister, Martin. Du träumst schon, noch bevor du richtig schläfst. Na dann – gute Nacht Herzchen.“
Die Mutter strich die Decke glatt und machte die Tür hinter sich leise zu.

„Träume ich dich, Franz?“ fragte das Kind besorgt. „Aber wo!“ sagte Franz rasch. „Weiß du, die Menschen können uns gar nicht sehen. Deshalb glauben sie auch nicht, dass es uns gibt. Nur für unsere Freunde können wir uns sichtbar machen. Und du bist mein ganz besonderer Freund.“

„Ich weiß nicht“ sagte Martin zweifelnd. „Ich habe gehört, dass die Gespenster gerade den bösen Menschen erscheinen. Sie erschrecken dann fürchterlich und fallen tot um. Oder sie stottern für immer und ewig.“

„Unsinn“, erwiderte Franz. „Das, was die bösen Menschen sehen, ist ihr eigenes schlechtes Gewissen. Die Feiglinge wiederum sehen nur ihre eigene Angst und glauben, es wären Geister. So ist es! Und heute bist du an der Reihe. Welches Märchen erzählst du mir heute?“

Und so sitzen die beiden in Martins Bettchen und erzählen sich Märchen. Nachtein, nachtaus.

Anmerkung:

Der Text dieser Geschichte wurde so niedergeschrieben, wie übernommen. Das Copyright liegt ganz alleine bei Nadia Meißnitzer und Irene Racek.