Samstag, 22. Januar 2011

Das Jahr 1968

Zur Einleitung:

in Prag besuchte ich eine Eliteschule und nachdem ich 1965 meine Reifeprüfung abgelegt hatte, bekam ich per Zuweisung eine Stelle in einem der rund zwanzig Außenhandelsunternehmen. Diese staatlichen Firmen waren privilegiert und der berufliche Werdegang quasi vorprogrammiert: Tippmamsell, Sachbearbeiter, Abteilungsleiter, Handelsdelegierter, Botschafter. Auch bei der, mir angeborenen Naivität brauchte ich nicht allzu lange um zu erkennen, dass mir hier die Welt ganz bestimmt nicht offen steht. Für diese vorgezeichnete Karriere fehlte mir nämlich das Wesentliche – ein biegsames Rückgrat. 

Ich spielte also mit dem Gedanken, die journalistische Laufbahn einzuschlagen. Man redete es mir aus. Mit Recht. Mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sowie die geradezu jähzornige Abneigung gegen Willkür und Unrecht, kombiniert mit meinem losen Maul, haben mich auch für diesen Beruf von vornherein disqualifiziert.  Mein Alternativvorschlag, Simultandolmetscherin zu werden, wurde dagegen allseits befürwortet. Ich hatte Talent für Fremdsprachen, war seit Kindesbeinen eine Plaudertasche und so fanden alle geradezu ideal die Aussicht, dass ich mich mit Nachplappern fremder Ansichten beschäftigen und somit keine Zeit mehr  haben werde um die eigene Meinung zum Besten zu geben.

Schon damals keimte in mir eine Neigung zum Perfektionismus.  Es war eine der vielen Bilderbucheigenschaften meines fabelhaften Vaters und eine der Wenigen, die ich von ihm geerbt habe.  Im Frühjahr 1968 erhielt ich dank einer seltsamen Begebenheit und der daraus resultierenden Vermittlung durch die staatlich-kommunistische „Organisation  für Jugendreisen“ die Zusage, ein Jahr lang als Au-pair-Mädchen in Paris zu arbeiten und einen Französischkurs an der Sorbonne (samt Staatsexamen) zu belegen.  Die Adresse meiner künftigen Arbeitgeber sollte ich erst knapp vor der Abreise bekommen, die Anfang September erfolgen sollte. Ich war damals verdammt stolz darauf, dass ich Tschechin bin und wollte niemals anderswo leben. Auch nicht im göttlichen Frankreich, wo ich lediglich mein Französisch zur Perfektion bringen wollte um danach schleunigst wieder nach Prag zurückzukehren, in die schönste Stadt der Welt, und hier fortan als begehrte Dolmetscherin zu arbeiten.

Die bekannten Geschehnisse und eine Panik, die mich jäh (und absolut grundlos, wie sich etliche Jahre später herausstellte)  überfiel, machten mir Strich durch die Rechnung. Infolge dessen landete ich Anfang September nicht in Paris sondern in Wien, wo ich eine Weile „picken“ blieb. Ich hatte Glück, dass ich recht bald einen Job fand, sodass ich ein möbliertes Zimmer mieten konnte und mit jugendlichem Elan meine neue Existenz aufbauen wollte. Ich hatte insofern Pech, da ich gar nicht deutsch sprach und war viel zu naiv um überhaupt mitzukriegen, dass ich Asyl beantragen muss. Dir Frist für die Legalisierung meines Aufenthaltes in Österreich verpasste ich gleich um mehrere Monate.

Im Frühjahr 1969 teilte mir die Fremdenpolizei unmissverständlich mit, ich müsse Österreich verlassen. Es gab kein WOHIN. Während sich die Lage in der Tschechoslowakei immer mehr zuspitzte, sodass die Rückkehr praktisch ausgeschlossen war, klapperte ich vergeblich sämtliche Botschaften ab. Ich hatte kein Asylrecht und somit auch nicht den notwendigen Emigrantenstatus. Schließlich habe ich Österreich doch noch verlassen. Ein Brieffreund aus der Bretagne, mit dem ich sieben Jahre lang eine rege Korrespondenz unterhielt, bot sich spontan an mich zu heiraten (sozusagen als Freundschaftsdienst) damit ich mein akutes Problem „wohin mit mir“ mit einem Schlag aus der Welt schaffen kann. Ich ließ mich dazu überreden, die Fremdenpolizei und die Zeit drängten, es war ohnehin meine einzige Chance  und außerdem habe ich mich mit Yves die ganzen Jahre hindurch blendend verstanden. Auf dem Papier. Wir heirateten in Wien, das französische Konsulat stellte umgehend meinen neuen Reisepass aus  und ich zog zu Yves nach Genf. Dort stellte sich bald heraus, dass wir „im wirklichen Leben“ in keiner Weise kompatibel sind, ließen  uns daher nach ein und halb Jahren friedlich scheiden und gingen getrennte Wege, ich nach Zürich, Yves nach Paris. Ein und halb Jahre später heiratete ich dann einen Österreicher und kehrte zurück nach Wien. Diese Kapitel meines Lebens wären zwar auch eine Erzählung wert,  doch diesmal überspringe ich sie damit ich endlich dazu komme, worüber ich eigentlich schreiben wollte – über die allgemein unterschätzte Klippe der Emigration.

Im Jahre 1968 war Europa zutiefst erschüttert angesichts der Tragödie des tschechoslowakischen Volkes. Insbesondere dann die Österreicher, vor deren „Türschwelle“ sich die frische Geschichte soeben abspielte. Es war also nicht verwunderlich, dass das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft grenzenlos waren. Einige Jahrzehnte und viele Tragödien anderer Völker später sind die Menschen mehr oder weniger abgestumpft und immun geworden gegenüber fremdem Unglück, das heutzutage meist in „Maggiwürfeln“ als kurzlebige mediale Sensationen und “war games” konsumiert wird. Oder aber in den Medien breitgetreten in langatmigen Kommentaren um die Öffentlichkeit von den innerpolitischen Skandalen und sonstigen Desastern im eigenen Land abzulenken. 

Nach meiner Ankunft in Wien – der großen Freundlichkeit und allgemeinen Hilfsbereitschaft, die mir zuteil wurde, ja sogar meinem geschwätzigen Naturell zu trotz – wurde ich mit einem Problem konfrontiert, das ich nie und nimmer für möglich hielt : ich schlitterte in eine immer größer werdende Isolation. Die wahre Ursache lag damals keineswegs in meiner Unkenntnis der deutschen Sprache (ich  lernte relativ schnell) sondern darin, dass ich mich plötzlich in einer „ganz anderen Welt“ wieder fand - und dies obwohl diese neue Welt scheinbar nicht wesentlich anders  war als jene, die ich gerade verlassen hatte. (Ich halte es für unnötig, hier die geschichtlichen Parallelen beider Länder  anzuführen.)  Was mir plötzlich fehlte war ein gemeinsamer Nenner: die gemeinsame Kindheit. Dieses Manko führte schnell dazu, dass zwischen mir und meiner Umgebung eine unsichtbare Barriere entstand. Manchmal kam ich mir vor als ob ich vom Mond gefallen wäre, ab und zu zweifelte ich trübsinnig an meiner realen Existenz.  Meine Gefühle schrieb ich damals nieder als Kurzgeschichte über ein fiktives Geschöpf, das sich „sein Familienalbum“ aus alten, aus der Altpapiersammlung herausfischten Fotos zusammenklebt und  „seine Erinnerungen“ erfindet.
 
Ich wurde herumgereicht wie ein Jahrmarktexote, jedermann  wollte mich kennen lernen, mir die Hand schütteln und sein aufrichtiges Mitleid aussprechen. Die Unterhaltung verlief stets nach dem gleichen Muster: „ah, Sie sind das Fräulein aus Prag!“ „Ja bitte“ „Und Sie sind hier Mutterseelen alleine, nicht wahr?“ „Ja bitte.“ „Sie armes Ding! Das ist wirklich arg, was in ihrem Land passiert ist! Wir haben es im Fernsehen gesehen. Meine Großmutter stammte aus Brünn.“ Ich lächelte verlegen. Mein Trauma aus dem abrupten Ende des Prager Frühlings, Einmarsch der Russen und jäh verlorener Ideale war allzu frisch, die Situation ohnehin allgemein bekannt. Es widerstrebte mir, pausenlos herunterzuleiern wie mich das Leben am Kragen packte und aus dem warmen Nest hinauswarf und vor allem wollte ich mich auf gar keinen Fall als „Armes Mädchen vom Dienst“ etablieren. “Ja, Sie sind sicher darüber sehr glücklich, dass sie jetzt hier bei uns sind, in Sicherheit!“ „Ja bitte.“ „Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“ „Sehr!“ „Na das glaub ich auch!“ Und damit begann und auch endete jede Konversation.

Man war überzeugt, dass ich vor lauter Glück außer mir sein müsse, jetzt auf der „Insel der Seeligen“ wie die Österreicher ihr Land gerne apostrophieren. Niemand kam auf die Idee, dass ich jetzt überhaupt noch irgendwelche Probleme hätte haben können – und meiner Ansicht nach wollte es auch niemand hören. Und niemand hätte verstanden, dass meine Probleme jetzt nicht nur „nicht endeten“ sondern erst richtig begannen.  Man schenkte mir hie und da, wohlmeinend, eine Schachtel Zigaretten oder eine Flasche Wein, da man mit Recht annahm, dass dieser Luxus  für mich unerschwinglich sei und fast niemandem fiel ein, dass ich mir meistens nicht einmal eine ordentliche Mahlzeit  leisten konnte. Warum ich es für mich behielt? Nun ja, es fällt einem schwer mit fremden Menschen über persönliche Troubles zu reden! Vor allem dann, wenn sie DANKBARKEIT und FREUDE erwarten.  Nach der verbreiteten Meinung bin ich soeben unter dem eisernen Vorhang hervor gekrochen, hinter dem jegliche Zivilisation endete.

Die Propaganda des kalten Krieges funktionierte zuverlässig auch im Westen. Das Interesse an meiner Person ließ bald nach, ich wurde einfach nur langweilig und die Menschen um mich – trotz ihres besten Willens – ziemlich ratlos. Man konnte mit mir nichts anfangen, ich wiederum wusste nicht wie ich beweisen sollte, dass ich „nicht auf allen Vieren herumlaufe sobald mir keiner zuschaut“. Ich kannte weder Peter Alexander noch  Peter Kraus oder Conny Froboes, ich zeigte keine Vorfreude darüber, dass am Abend im Fernsehen Der alte Hofrat mit Hans Moser kommt,  ich wusste nicht wer Qualtinger oder Farkas sind, es gab einfach nichts worüber man mit mir hätte plaudern können. Und obendrein sagte ich nicht selten eine gut gemeinte Einladung ab, da es mir peinlich war zuzugeben, dass ich  nicht einmal das Geld für die Fahrkarten habe.

Wenn ich meine einstigen Erfahrungen zusammenfasse, aber auch das, was mir mit der Zeit andere Emigranten erzählten: die Sympathie einem Ausländer gegenüber ist meist kurzlebig. Das Interesse verfliegt sobald die erste Neugier befriedigt wurde, danach verbleibt kaum etwas womit man zur Unterhaltung beitragen könnte, man wird schlicht und einfach fad  -  und wenn man nicht vereinsamt auf seiner eigenen seelischen Insel dahinvegetieren  will, muss man wohl oder übel zu „Unsereinem“ werden. Sobald man das eigene Land verlässt,  verliert man nicht nur die Heimat, Familie und Freunde – sondern auch die eigene Kindheit und Jugend, die fortan nur noch in Erinnerungen existieren, und zwar vor allem in den gemeinsamen Erinnerungen.  Ich habe gelesen, dass der Geschmack, Vorlieben und Sympathien eines Menschen nicht nur durch seine Erziehung gebildet werden, eine wesentliche Rolle spielt dabei auch die Gewohnheit also das, was uns im Laufe der Zeit durch oftmalige simple Wiederholung zur Vertrautheit wird. 

Ein Unbekannter, der Struwwelpeter rezitiert, seine Entchen auf dem See schwimmen lässt, mit dem Pferdchen über Stock und Stein hoppelt, Karl-Otto auf ein Loch im Eimer aufmerksam macht und sonntags mit den Eltern in den Wurstelprater ging – kommt uns vor wie ein alter Bekannter.  Jener, der lediglich eine Schilderung fremder Länder und Sitten zum Besten geben kann, mag für eine Weile unser Interesse wecken – er bleibt uns aber fremd. Zum Überwinden der Barriere fehlt ihm eben der gemeinsame Nenner: Erinnerungen und Erlebnisse, mit denen wir uns selbst identifizieren könnten – eine Art von Gefühlswerkzeug, das die Türe in unsere Gemeinschaft öffnet. 

Soweit mir bekannt ist, konnten sich sehr viele Tschechen im Ausland relativ schnell orientieren, sie setzten sich auch im Beruf durch  und gliederten sich mit der Zeit  in die Gesellschaft ihres Gastlandes gut ein.  Dennoch litten sehr viele jahrelang unter bitterer Vereinsamung.  Einige Paare gingen hier auseinander nachdem jeder in seiner eigenen Einsamkeit versank und beide zusammen in einer Enklave seelisch Gestrandeter inmitten eines Landes, in das sie mit zu großen Erwartungen kamen.

Als ich in Zürich lebte, ging ich eines Tages aufs Postamt um ein Paket mit Buchteln von meiner Mutter abzuholen. Ein junger Mann, der in der Schlange hinter mir wartete, sah die Prager Adresse des Absenders und nützte sofort die Gelegenheit um mit mir ins Gespräch zu kommen. Natürlich tschechisch. Auch er litt unter der Einsamkeit der verlorenen Kindheit. Wir besuchten einander sehr oft, summten die Lieder unserer Kindheit, erinnerten uns an die Lagerfeuer in den Ferienlagern, an alte Filme, Kabarettisten und rezitierten mit Vergnügen einstimmig die einst verhassten Schulbuchklassiker. Wir waren 26 Jahre alt, hatten beide einen gut bezahlten Job und waren beide,  wie man so sagt, „in fester Hand“.  Was uns im Ausland verband, war das Schicksal eines Peter Schlemihl, des Mannes ohne Schatten. Adalbert Chamisso schrieb im Jahr 1813 seine Wundersame Geschichte des Peter Schlemihl als Gleichnis seines eigenen Schicksals.  In den Wirren der Französischen Revolution musste der adelige Chamisso seine  heimatliche Champagne verlassen, fand Zuflucht in  Berlin, aber erst nach „langem Suchen einer Heimat“  wurde er zu einem (einheimischen) Deutschen.

Nach meiner Rückkehr nach Wien fand auch ich meinen Schatten wieder. Mit meinen Kindern lernte ich Kinderlieder und –reime, dank den Nostalgiesendungen im Fernsehen habe ich auch die hiesigen fünfziger und sechziger Jahre nachgelernt (die uralten Schlager, alte Filme, ja sogar die verstaubten Werbeslogans samt Klementine und Frau Marianne). Und so bastelte ich mir mit der Zeit eine verhältnismäßig getreue Kopie „meiner österreichischen Kindheit und Jugend“, ich bin stets im Bilde, kenne die Sprichwörter, verstehe Redewendungen und Anspielungen, kann diese auch richtig anwenden. Ich wurde nach und nach „einheimisch“. (Das Lexikon bietet als Synonym für einheimisch unter anderem: verwachsen, verwurzelt.)  Im Klartext:  ich bin schon seit geraumer Zeit eine gelernte Österreicherin, sogar eine recht beliebte.  Ich habe  rund 10 Jahre gebraucht bis ich es schaffte. Zehn Jahre, in denen ich – bildlich gesprochen – wie verrückt rannte um eine Gruppe Läufer nicht aus den Augen zu verlieren ohne überhaupt als Mitläufer zu gelten und genoss dabei mein Leben  ungefähr so, wie ein Marathonläufer die wunderbare Landschaft bewundern kann, durch die er  gerade flitzt.


Während der 40 Jahre verlor ich nach und nach den Kontext mit meinen Landsleuten, jetzt nunmehr ehemaligen. Tschechien bleibt für immer mein Geburtsland, Österreich wurde aber zu meiner Heimat und nur hier ist auch mein Zuhause.  Und ich denke, dass es auch so richtig ist. Mittlerweile verbrachte ich hier fast 2/3 meines Lebens, mit all diesen Niederlagen und Erfolgen sowie tollen (mitunter auch ziemlich miesen) Erinnerungen, die ich mit meiner Familie und vielen Freunden teile, und die ich nicht mehr missen möchte.

Selbstverständlich habe ich auch in Tschechien viele wunderbare Freunde, alte und neue. Doch manchmal verblüffen sie mich mit einem sonderbaren Kompliment: dass ich immer noch fließend tschechisch spreche, ja sogar akzentfrei!

Wien 2008
Alle Rechte  liegen bei der Autorin.

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