Montag, 13. Juni 2011

Die Farbe der Erde

Ich trat zu ihr und bewunderte staunend ihre Schönheit.

Einer meiner Spaziergänge hatte mich an den Rand eines Wäldchens geführt. Und da stand sie: die schönste Blume, die ich jemals gesehen hatte.Sie wuchs, versteckt zwischen einigen Büschen, aus einer rötlich schimmernden Erde heraus. Ich konnte nicht anders, ich musste sie mitnehmen!

Jeden Tag sollte sie mich von nun an erfreuen.

Vorsichtig lockerte ich mit den Händen das Erdreich, um ihre Wurzeln nicht zu verletzen. Dann zog ich meine Jacke aus, legte die Blume und etwas Erde hinein und trug meinen Schatz nach Hause.

Zurück in der Wohnung leerte ich eine Bonbonschale und setzte meine Blume hinein. Ihre Wurzeln bedeckte ich behutsam mit der roten Erde. Dann stellte ich die Schale auf ein Fensterbrett im Wohnzimmer.

„Ich werde dich ‚Belle’ nennen!”, sagte ich. Das schien mir ein passender Name zu sein. „Heute kann ich dir leider keinen Blumentopf kaufen. Aber morgen, ganz bestimmt! Morgen bekommst du auch noch mehr Erde.” 

Da veränderte Belle plötzlich ihre Farbe. Aus tiefem Weinrot wurde ein leuchtendes Gelb.
Spürte sie, wie sehr ich sie liebte? Konnte sie meine Stimmungen erahnen und diesen ihre Farbe anpassen?

Aber warum sich über etwas den Kopf zerbrechen, worauf man sowieso keine Antwort bekommt? Hauptsache, Belle war bei mir. Ich gab ihr ein wenig Wasser, dann legte ich mich ins Bett und schlief glücklich ein.

Am nächsten Tag ging ich während der Mittagspause in eine Gärtnerei und suchte den allerschönsten Keramiktopf aus. Dazu kaufte ich für meine wunderbare Blume einen Beutel bester Humuserde. Spät abends kam ich nach Hause. Mein erster Gedanke galt Belle. Ich eilte zu ihrem Fensterbrett. Ein kräftiges Rot leuchtete mir entgegen.

Liebevoll topfte ich sie um und stellte sie zurück an ihren Fensterplatz. Wie begeisterte mich ihr Anblick! Wieder wechselte sie die Farbe ihrer Blütenblätter. Täuschte ich mich, oder sah das Gelb heute ein wenig blasser aus?

Die Tage vergingen. Jeden Abend kehrte ich nach der Arbeit eilig nach Hause zurück, gab meiner Belle Wasser und setzte mich anschließend auf einen Stuhl ihr gegenüber, um sie einfach nur anzusehen. Aber etwas beunruhigte mich.

Von Tag zu Tag schienen ihre Farben blasser zu werden. Bekam sie vielleicht zu wenig Licht? Besorgt stellte ich Belle an ein anderes Fenster, das nach Süden zeigte. Sie sollte es gut bei mir haben!

Eines Abends goss ich gerade wie gewohnt meine Blume, als ich plötzlich eine Stimme hörte:

„Gib mir von der roten Erde!”

Fast hätte ich die Gießkanne fallen lassen. Hatte Belle etwa zu mir gesprochen? So etwas gibt es doch gar nicht! Ich musste überarbeitet sein. Kopfschüttelnd ging ich ins Bett. Am folgenden Abend jedoch hörte ich wieder diese Stimme:

„Gib mir von der roten Erde!”



Nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Es war tatsächlich Belle, die zu mir sprach. Welch eine einmalige Pflanze hatte ich da mit nach Hause gebracht!

Am nächsten Tag eilte ich ein weiteres Mal während der Mittagspause in die Gärtnerei und fragte: „Kennen Sie eine rote Erde, die Blumen besonders mögen? Es gibt sie an manchen Waldrändern.”

Der Gärtner erklärte: „Ich kenne zwar diese rote Erde, von der Sie sprechen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Blumen sie besonders lieben. Im Gegenteil. Sie ist minderwertig; kaum eine Pflanze kann in ihr gedeihen. Geben Sie Ihrer Blume lieber etwas Dünger. Damit können Sie nichts falsch machen.”

Also kaufte ich ein Säckchen Dünger und freute mich auf den Abend. Ich würde meiner Belle etwas geben können, was sie sonst niemals bekommen hätte! Abends mischte ich behutsam den Dünger unter Belles Erde.

„So, meine Schöne, das wird dir gefallen!”

Ich setzte mich wieder ihr gegenüber und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Bestimmt würde sie glücklich sein und sich mit einem besonders leuchtenden Farbenspiel bei mir bedanken.

„Gib mir bitte etwas rote Erde!”

Ihr blasses Rot wechselte langsam zu einem kraftlosen Gelb. Ich war enttäuscht. Wenn sie nur wüsste, dass diese rote Erde minderwertig ist! Warum verstand sie nicht, dass ihr der Dünger viel besser bekam? Ich gab ihr etwas Wasser. Daraufhin war sie still.

Am nächsten Abend sahen Belles Blütenblätter krank und verblichen aus. Ihre Stimme war kaum hörbar.

„Gib mir bitte etwas rote Erde!”

Verzweifelt gab ich ihr etwas Wasser. „Bitte”, sagte sie leise.

Ratlos betrachtete ich meine Blume, die mich ermattet anzublicken schien. Schließlich legte ich mich ins Bett. Doch ich konnte nicht schlafen. Unentwegt machte ich mir Sorgen um meine einstmals so schöne Belle.

Endlich fasste ich einen Entschluss: Morgen war Samstag, und ich musste nicht arbeiten. Ich würde zum Waldrand gehen und rote Erde holen, um Belles Wunsch zu erfüllen. Am nächsten Morgen stand ich früh auf und sah nach meiner Blume. Sie leuchtete nicht mehr. Sie sprach nicht mehr.

Ich hetzte zu der Stelle, an der ich sie gefunden hatte, und füllte zwei Plastiktüten mit roter Erde. Dann eilte ich wieder nach Hause. Mit zitternden Fingern wechselte ich Belles Erde aus.

Nach bangen Minuten des Wartens sah ich, wie ihre Blütenblätter sich schwach rot färbten. Allmählich leuchteten sie kräftiger.

„Ich danke dir!”, hörte ich plötzlich ihre Stimme.

Das Rot wechselte zu Orange, dann zu Gelb. Es wurde blasser und blasser. Es war zu spät.

Die ganze Zeit über hatte ich Belles Worte gehört. Aber verstanden hatte ich sie nicht.

Dabei war ihr Wunsch ganz einfach zu erfüllen gewesen. Doch ich hatte geglaubt, besser zu wissen, was gut für sie sei. Niemals mehr würde Belle ihre Farben für mich wechseln, niemals mehr eine Bitte an mich richten.


© Michael Jordan Januar 2002 / 2007

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